Ein maskierter Serientäter überfällt in der Gegend um den Ammersee Supermärkte und Bäckereien. Er entkommt jedes Mal. Eines Tages kontrollieren zwei Polizisten ein Fahrzeug – und stehen plötzlich vor dem Täter. Dann fallen Schüsse
Sie sind schon auf der Autobahn und die Schicht ist fast um, als der Einsatz kommt. Ein verdächtiges Fahrzeug, in einem Waldstück hinter Geltendorf. Als sie eintreffen, finden sie es nicht. Später ist klar, dass er sie da bereits beobachtet.
Sie fahren zu zweit Streife, der Praktikant am Funk, am Steuer der Streifenführer. Vor ihnen liegt, dunkel und dicht, der Wald. Sie versuchen, die Einsatzzentrale zu erreichen. Kaum Empfang.
Also zurück und auf freiem Feld die Dienststelle anrufen; wenig später ist der Waldarbeiter da, der das Fahrzeug entdeckt hat, und fährt ihnen voraus. Diesmal sehen sie es. Am Ende eines der schmalen Pfade, die man schlägt, um Holz zu rücken, steht ein blauer Mitsubishi, auf dem Dach ein Blaulicht. Ein Mann sitzt darin.
Er steigt aus, als sie aussteigen. Sie nähern sich, Polizei, Verkehrskontrolle. Marcus Weber, 43 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, geht voraus. Hinter ihm folgt Dennis Pils, 19, Polizeianwärter im Praktikum. Sie sprechen den Mann erneut an, und weil er so hinter seiner Fahrertür steht, dass sie seine Hände nicht sehen können, sagen sie, können wir mal die Hände sehen.
Da kommt die Hand hoch, und sie sehen nur diesen Lauf, der sehr lang ist, und blamm!, ein Schuss, die erste Kugel trifft Weber in den Bauch, schleudert ihn zurück, und blamm!, die zweite Kugel streift seinen Oberkörper, durchschlägt die Schachtel Zigaretten in seiner Brusttasche und sirrt in den Wald.
Es ist Samstag, 25. Mai 2013. In Geltendorf, an der Autobahn zwischen München und Lindau gelegen, haben die Glocken der Kirche Zu den Heiligen Engeln gerade die Stunde geschlagen. Zwölf Uhr mittags.
Zehn Meter vor Dennis Pils steht der Mann, einen Revolver im Anschlag. Er lächelt.
Dennis Pils denkt, Scheiße, der Waldläufer.
Drei Jahre zuvor, Februar 2010. Es liegt Schnee in Greifenberg, einem der Orte entlang der A96 zwischen Lindau und München. Kurz vor Ladenschluss tritt ein Mann mit Regenschirm in den Supermarkt an der Hauptstraße und zückt eine Pistole. Er spricht gebrochen Deutsch: Gib Geld, gib Geld, ist nicht dein Geld, ist Geld von Netto, tust Geld da rein, weil sonst zieh ich Handgranate.
Da erkennen die Verkäuferinnen den Gegenstand, den der Mann an einer Art Koppel hängen hat. Sie stopfen ihm Scheine in eine Tüte, gelassen geht der Täter nach draußen. Dort steht der Ehemann der Putzfrau des Supermarkts, der den Überfall bemerkt hat. Er sieht, wie der Täter die Straße quert, seinen Regenschirm aufspannt und in der Dunkelheit davonspaziert. Er geht ihm nach. Das ist ein Fehler.
Plötzlich bleibt der Täter stehen, dreht sich um und seinen Regenschirm zur Seite, im gleichen Augenblick fällt schon der Schuss. Er trifft den Zeugen im Bein, kurz darauf ist die erste Funkstreife da. Die Einsatzzentrale reagiert umgehend, räuberische Erpressung mit Schusswaffengebrauch, umfassende Tatortbereichsfahndung. Der Täter ist weg, ist hinter der Kirche die Böschung zum Friedhof hinab, wo der Wald beginnt, der bis zur Windach reicht, einem Zufluss der Amper.
Die Kriminalpolizei aus Fürstenfeldbruck übernimmt. Alles, was sie haben, sind Abdrücke eines Stiefels im Schnee und die Aussagen der Zeugen. Eine Handgranate? Um einen Netto zu überfallen? Die Beute beträgt 2274 Euro. Ausländischer Akzent? Vielleicht vorgetäuscht; der Täter fragte den Zeugen, den er anschoss, auf Hochdeutsch, ob sonst noch etwas wäre. Der Schuss macht ihnen Sorge. Die Wunde ist tief, Steckschuss ventrodorsal; als die Ärzte das Projektil heraus haben und die Ballistiker dran dürfen, staunen sie. Kaliber 5,5. Das ist eine Munition für Luftgewehre. Ballistiker tippen auf eine LEP, eine Luftdruckenergiepatrone. Damit schießen Jäger, wenn es Vögel nicht so zerreißen soll, dass man sie nicht mehr essen kann.
Nun scheint zumindest die Straftat klar: ein versuchtes Tötungsdelikt – das ist Trumpf im Apparat der Verbrechensbekämpfung. Je schwerer die Straftat, desto weiter reichen die Maßnahmen der Ermittlung. Bei Tötungsdelikten bietet die Polizei alles auf, was sie hat. Funkzellenabfrage. Telefonüberwachung. Operative Fallanalyse. Ein Traum für jeden Ermittler. Der Staatsanwalt pfeift sie zurück. Von einem Vorliegen eines versuchten Tötungsdelikts sei zu diesem Zeitpunkt nicht auszugehen. Auf Deutsch: Wer den großen Zirkus will, braucht mehr als ein Luftgewehrgeschoss. Als alle Aussagen aufgenommen, alle Spuren asserviert und alle Hinweise verfolgt sind, gerät Aktenzeichen 1203-000543-10/2 in der alltäglichen Arbeit aus Einbrüchen, Diebstählen, Erpressungen und Betrügereien allmählich ins Vergessen.
Sofort peitscht Adrenalin durch den Körper, Waffe ziehen, entsichern, zielen, Dennis Pils will gerade abdrücken, da erhebt sich auf einmal taumelnd der angeschossene Streifenführer Marcus Weber und schießt, einmal, zweimal, der Mann mit dem Revolver feuert zurück, dunkel rollt das Donnern der Schüsse durch den Wald.
Hinten auf dem Heuweg, auf dem sie gekommen sind, hechtet der Waldarbeiter in Deckung. Sie schreien, Waffe weg!, Polizei!, aber die Antwort sind Schüsse. Sie geben sich gegenseitig Feuerschutz und ziehen sich von Baum zu Baum zurück. Sie sehen einen Punkt auf der Mündung des Revolvers sitzen, mit dem der Mann aus der Deckung seines Autos auf sie schießt. Ein Laserzielgerät.
Im Jahr zuvor, August 2012. Nacht liegt über dem Nordufer des Ammersees. Auf der anderen Seite der Autobahn, wo die B471 an den Mooren der Amper entlang in die Wälder vor Grafrath läuft, schaltet die Nachtschicht der Tankstelle am Gewerbegebiet gerade die Automatik der Schiebetüren aus, als ein vermummter Mann vor den Eingang tritt, einen Augenblick stutzt und verschwindet.
Das Gesetz ist klug. Es stellt nicht nur die Tat selbst unter Strafe, sondern auch den Versuch, sie zu begehen. Als der Notruf eingeht, entsenden sie mehrere Streifen, versuchter Raubüberfall, aber der Täter ist weg. Niemand rechnet damit, als er drei Nächte später abermals auftaucht, in die Tankstelle tritt und zwei Angestellte bedroht, in der rechten Hand eine Pistole, in der linken eine Handgranate. Er flüchtet mit 775 Euro.
Sie stellen die Bilder der Überwachungskameras sicher: ein Mann in grünem Parka, die Kapuze auf dem Kopf, darunter eine Schirmmütze, die das Gesicht verschattet, das wiederum mit einer Maske vermummt ist. Handschuhe. Stiefel. Pistole. Als sie den Zeugen des Überfalls in Greifenberg Abzüge zeigen, nicken die: Das ist der Typ. Jetzt haben sie, was sie einen Tatzusammenhang nennen.
Wie überall, wo mehrere Menschen gemeinsam arbeiten, gehen die Meinungen auseinander. Manche sind der Ansicht, zweimal Handgranate, muss ein Serientäter sein, irgendwo aus dem Ostblock, wegen des Akzents. Manche glauben, zwei Überfälle in zwei Jahren machen noch keine Serie, schon gar nicht mit so windiger Beute. So oder so – Herr Staatsanwalt: Antrag auf Funkzellenabfrage.
Der Fall gehört jetzt Kommissariat 2 der Kripo FFB, Ermittler wird KHK Kaiser: ein erdiger Kommissar, dessen Vorname Thomas sich über die Jahre zu Tom abgeschliffen hat. Kaiser trägt sein Herz auf der Zunge. Für den Erfolg eines Ermittlers ist das Gold: Kaiser kann mit Menschen, weil er wie einer spricht. Für die Karriere eines Beamten ist das Gift: Kaiser eckt schon als Anwärter an, weil er als Sprecher seiner Einsatzhundertschaft wissen will, warum sie seit Jahren vor Wackersdorf im Schlamm liegen wie die Soldaten.
Kaiser spreizt sich in den Fall. Archiv: alle Raubüberfälle, bei denen Handgranaten eingesetzt wurden. Stadelheim: der neue Häftling, der schon eine Tankstelle mit einer Faustfeuerwaffe überfiel. Interpol: diese kroatische Handynummer aus der Funkzelle an der Tankstelle. Nichts.
Atemlos gehen sie hinter ihrem Streifenwagen in Deckung. Alles ist so schnell gegangen, aber jetzt, im ersten Augenblick des Atemholens, stellen sie fest, dass sie beide fast ein gesamtes Magazin verfeuert haben, acht Schuss. Pils will wissen, was die Wunde macht. Weber steht so unter Strom, er spürt keinen Schmerz, aber irgendwo da ist Blut. Seinen Schreck hält er im Zaum.
Einmal, vier Jahre her, war ein Notruf gekommen, er hin, angeklopft, da schwang die Tür auf und schon schoss der Typ dahinter, Gott sei Dank schlecht. Seitdem trägt er selbst im heißesten Sommer immer Schutzweste.
Nacheinander wechseln die Polizisten die Magazine ihrer Waffen. Als Weber einen Blick wagt, fällt ein Schuss und eine Seitenscheibe des Streifenwagens splittert. Eines ist klar: Sie brauchen Verstärkung. Das Funkgerät sitzt in der Mittelkonsole des Streifenwagens. Genau im Schussfeld.
Im Jahr zuvor, Oktober 2012. Der Supermarkt am Bahnhof von Geltendorf hat gerade aufgemacht, da steht auf einmal ein vermummter Mann vor der Theke der Bäckerei am Eingang, Geld her oder ich schieße!, und schon schießt er, auf eine der Tassen an der Kaffeemaschine. Angsterfüllt packt die Verkäuferin das Geld in eine Brotzeittüte, der Täter geht auf und ab, schnell, schnell, wo ist Kollegin, wo ist Kollegin, aber die Kassiererin des Supermarkts ist geflohen. Der Mann verschwindet im Wald.
Sie sind schnell am Tatort. Der Täter kann nicht weit sein. Sie sichern die Zufahrten. Sie kontrollieren Autos. Sie halten Züge an. Sie haben Spürhunde am Boden und den Helikopter Edelweiß 8 in der Luft. Es ist ein Erstangriff wie aus dem Bilderbuch. Der Täter ist wie vom Erdboden verschluckt.
Der Kriminaldauerdienst sägt das Stück Theke heraus, in dem die Kugel steckt. Kleinkaliber. Keine Verfeuerungsspuren. Könnte eine LEP gewesen sein. Dann sehen sie die Bilder der Überwachungskamera. Dieser Parka. Diese Maske. Sie werten noch Spuren aus, als die Bäckerei auf den Tag und die Stunde genau eine Woche später ein zweites Mal überfallen wird. Parka. Maske. Handgranate. Sie sind sehr schnell am Tatort. Der Täter ist sehr schnell verschwunden. Sie nennen ihn nun den Waldläufer. Jetzt ist es persönlich.
Im Wald gibt Weber Deckung, während Pils hinter dem Streifenwagen versucht, sein Privathandy so in die Höhe zu halten, dass er Empfang bekommt. Als er endlich eine einzige der Säulen sieht, die Signalstärke anzeigen, drückt er auf Wahlwiederholung. Die Dienststelle.
Die Verbindung ist mies. So kontrolliert, wie er nur kann, meldet der Praktikant, wir stehen unter Feuer, wir brauchen Verstärkung. Die Schussgeräusche sagen den Rest. Dann bricht die Verbindung ab.
Die Kollegen werden brauchen. Die Stelle im Wald muss man erst mal finden, und einen Heuweg gibt es nicht nur im Wald, sondern auch im Ort Geltendorf. Sie versuchen es erneut mit Vernunft. Polizei! Waffe weg! Schüsse. Polizei! Werfen Sie endlich die Waffe weg!
Der Mann mit dem Revolver ruft: Hier bin ich die Polizei.
IIm Jahr zuvor, Oktober 2012. Zwei Überfälle, in einer Woche. Die Nachricht rast durch die übergeordneten Dienststellen, und der Polizeiapparat weiß: Der Wilde Westen ist umgehend zu befrieden. Zwei Tage später wird eine eigene Ermittlungsgruppe aufgestellt. Sieben Tage später liegt das Spezialeinsatzkommando an alten Tatorten auf der Lauer. Sechzehn Wochen lang fahren Streifen von Spezialkräften in Zivil ein Raum- und Objektschutzkonzept. Sie haben jetzt Zugriff auf den ganz großen Zirkus.
Sie arbeiten sich mit Spezialisten der Operativen Fallanalyse am Täterprofil ab. Wer derart spurlos verschwindet – Ortskenntnis. Wer an Handgranaten kommt – Ausland. Wer Handgranaten und den Willen hat, sie einzusetzen – schießt Kleinkaliber? Um eine Bäckerei in aller Früh zweimal hintereinander für das Wechselgeld von 250 und 500 Euro zu überfallen? Es ergibt keinen Sinn.
Sie konzentrieren sich auf eine verheißungsvolle Spur. Eine Zeugin des Überfalls ist sicher, in den barschen Befehlen des Täters das polnische Wort szybko gehört zu haben, schnell. Sie holen sich die Spuren aus den Funkzellen an den Tatorten, 8430 mobile Rufnummern, aber da ist jeder dabei, der einmal zu einer Tatzeit die A96 entlanggefahren ist. Sie sieben durch, 732 Rufnummern tatrelevant, 192 kommen in die engere Auswahl, zwei Anschlüsse hören sie ab, und bingo: polnisch.
Erster Anschluss, Anschlussinhaber ein irre langer Name, den kein Mensch buchstabieren kann, Durchsuchungsbefehl für eine Wohnung in Landsberg am Lech: Der Polier einer Baukolonne aus Polen streckt ihnen das Handy seiner Truppe entgegen, angemeldet auf einen ausgedachten Namen. Auf diese Art teilen sich Leiharbeiter einen Handyanschluss häufig.
Zweiter Anschluss, jetzt pressiert es langsam, Ergebnisse müssen her, aber was sollen sie machen – einer 79-jährigen Frau im Altersheim in Gauting die Tür eintreten? Auf ihren Namen wurde das Handy angemeldet, aber sie ist dement. Das hat jemand ausgenutzt, aber der Waldläufer ist es nicht. Sie gehen zurück auf Los.
Sie fragen sich, woher der Mann die Munition nimmt. Er schießt wie nach einem Takt, und wenn sie denken, jetzt, eine Unterbrechung, jetzt muss er nachladen, Revolver sind sechsschüssig, jetzt haben wir eine Chance, jetzt muss er Patronen in die Trommel schieben, Stellung wechseln, schnell – da geht es gleich wieder los.
Als Weber beim nächsten Mal aus der Deckung äugt, sieht er den Mann die Waffe senken, ein paar rasche Griffe, schon kommt sie wieder hoch. Ein Schnelllader: sechs Patronen, vorgeladen in einer Halterung, fertig für die Trommel. Da denken sie zum ersten Mal ernsthaft an die Maschinenpistole. Sie haben eine im Streifenwagen, in einem verschlossenen Waffenkoffer.
Der Schlüssel dafür hängt zusammen mit dem Zündschlüssel des Wagens an einem Bund.
Wo ist der Autoschlüssel?
Der steckt.
Vier Monate zuvor, Januar 2013. Überfall mit Handgranate.
Wo? Tankstelle. Genau die? Genau die.
Jetzt atmen ihnen alle in den Nacken. Kein Vorwurf, Kollegen, aber: ordentliche Polizeiarbeit, der Begriff ist bekannt?
Sie wissen genau, was ordentliche Polizeiarbeit ist. Sie sind jedem einzelnen Hinweis nachgegangen, sie haben alte Häftlinge abgeklopft und junge Intensivtäter, die Betäubungsmittelkonsumenten und die Sexualstraftäter und sogar den Wanderzirkus, den in solchen Fällen immer irgendeiner als verdächtig meldet. Sie haben Supermärkte und Tankstellen über die Gefährdungslage aufgeklärt und vor heißen Zielen Zivilstreifen postiert. Sie haben Ballistikgutachten und Größengutachten und ein bretterdickes Personagramm von den Profilern, sie haben SEK und LKA und BKA in die Fahndung einbezogen und Aktenzeichen XY… ungelöst vorbereitet, sie haben den Stiefelabdruck im Schnee durch die Datenbanken gejagt, Jagdhütten gefilzt und von der Schweiz bis rüber nach Rumänien um Auskunft über Täter mit ähnlicher Masche ersucht, und ab jetzt rastern sie sich durch alle Männer zwischen Landsberg und Fürstenfeldbruck, 44 000 Datensätze, und das sind nur die zwischen zwanzig und vierzig Jahren.
Sie haben schon vor Wochen einen Zustand erreicht, in dem sie abends mit Gedanken an den Maskenmann mit Handgranate schlafen gehen und morgens mit ihm aufwachen.
Sie nennen es: in der Lage leben.
Jählings setzt der Mann zum Wurf an, Weber schießt noch, aber dann sprinten sie weg vom Streifenwagen, Handgranate, das muss eine Handgranate sein. Der Gegenstand fällt auf die Erde, es kracht, Rauch steigt auf. Eine Explosion, ja. Aber eine Handgranate war das nicht. Die zwei Polizisten arbeiten sich wieder zurück, wo hinter Fichten immer noch der Arbeiter in Deckung liegt, der sie angerufen hat. Der Mann mit dem Revolver wirft weitere Sprengkörper, aber nun harren sie aus. Dann sehen sie jemand durch den Wald kommen, in federndem Lauf. Keiner kann seinen Augen trauen, und für einen kostbaren Moment schweigen die Waffen.
Ein Jogger.
Sie brüllen ihn an, Deckung, Mann, Deckung!, aber der Jogger läuft weiter wie auf Schienen, der runde, geschmeidige Lauf eines Sportlers, der sich in einer Stunde Schweiß verlieren will.
Dann endlich nimmt er die Szenerie wahr: ein Streifenwagen mit zerschossener Seitenscheibe, zwei Polizisten mit gezogenen Pistolen und weit aufgerissenen Mündern.
Mal die Kopfhörer absetzen.
Der Schock der Erkenntnis trifft den Jogger so plötzlich, dass er beim Sprung in Deckung ausgleitet, schwer zu Boden geht, schnapp, das war die Schulter, Schmerzensschrei, und Schüsse. Sie ziehen ihn am Arm aus dem Schussfeld, das gibt seiner Schulter den Rest, vor Panik zitternd kauert er sich hinter den Streifenwagen. Wenn jetzt nicht bald was passiert, haben sie keine Munition mehr.
Zwei Monate zuvor, März 2013. Unter einem Regenschirm flüchtet ein vermummter Mann vom Supermarkt in Grafrath, den er gerade überfallen hat. Er wird verfolgt. Ein Auto fährt hinter ihm, der Fahrer hat den Überfall beobachtet. Plötzlich bleibt der Täter stehen, dreht sich um und seinen Regenschirm zur Seite, der Fahrer sieht einen Laserstrahl, und drei Schüsse fallen. Eine Kugel durchbohrt den Kotflügel, trifft das Scharnier der Fahrertür, schlägt aber nicht durch. Kein Kleinkaliber. Eine scharfe Waffe. Sie führen alle verfügbaren Kräfte zur Großfahndung heran, vergebens.
Sieben Stunden später stehen im Dunkel der Nacht schwer bewaffnete Männer in schusssicheren Westen vor einer Tür im Hinterland von Landsberg, da kommt die Ramme, da kommt der Befehl, und wumm, sie schlagen die Tür ein und stürmen. Der Tatverdächtige schreckt hoch, aber da hat ihn das Spezialeinsatzkommando schon. Sie haben ihn vor Jahren einmal mit Waffen aus dem Weltkrieg erwischt, die er mit Metallsonden im Wald gefunden hat, und dann ist er dreimal mit seinem Auto langsam durch die Tankstelle an der B471 gerollt, ohne zu tanken. Hat nicht gereicht, um ihn zu einem Hauptverdächtigen zu machen, aber jetzt sehen sie Gefahr im Verzug und lassen es darauf ankommen.
Sie stellen die Wohnung auf den Kopf. Kein Parka. Keine Maske. Keine Handgranate. Sie nehmen ihn vorläufig fest, aber sie ahnen schon: Er ist es nicht. Fieberhaft ermitteln sie weiter. Sie sind sicher, dass der Waldläufer wieder zuschlagen wird. Nur wo?
Da fällt einem Arbeiter ein verdächtiges Fahrzeug auf, Wochen später, in einem Waldstück hinter Geltendorf. Falsche Kennzeichen, ein Anruf unter vielen. Amper 14 bekommt den Einsatz, die haben heute erst einen Parkrempler gehabt, Blechschaden, am Penzinger Feld.
Sie sind nicht sicher, wie viel Schuss sie jetzt noch haben. Vier? Drei? Sie trennen sich. Weber springt in den Wald, er will in die Flanke. Pils soll ihn decken. Sie können den Plan vergessen. Der Mann schießt aus seiner Deckung und dann schießt er an einen Baum geduckt und dann schießt er vollkommen frei stehend, und dann ist es einfach und klar. Er oder ich. Dennis Pils drückt ab.
Wenig später sind die Kollegen da, Sanitäter, das Spezialeinsatzkommando, ein Rettungshubschrauber, der Weber ausfliegt. Er hat Glück gehabt. Die Kugel schlug einen Fingerbreit vom Saum entfernt in seine Schutzweste ein; als das Adrenalin weg ist, kann er wegen der blutigen Prellung kaum atmen, aber er lebt. Der Schusswechsel hat fast zwanzig Minuten gedauert.
Als sie den Leichnam untersuchen, entdecken sie selbst gefertigte Waffengurte, an denen sieben Revolver befestigt sind: ein Gasrevolver, zwei Kleinkaliber, vier scharfe Waffen; drei davon ordnen Ballistiker später den Überfällen zu.
Als sie seine Wohnung im Haus seiner Eltern sichern, finden sie vier Handgranaten, eine Kiste Molotowcocktails, Schwarzpulver, Munition, Tarnkleidung, Skizzen von Tatorten und ein handgeschriebenes Gebet, in der Stunde des Kampfes solle die Lichtgestalt seinen Leib mit einem Mantel aus Energie unverwundbar machen.
In dieser Kategorie denken sie nicht. Sie suchen ein Motiv. Sie laden diejenigen vor, die ihn zu kennen glaubten. Jetzt will es jeder schon vorher geahnt haben, ein Spinner!, ein Spieler!, ein Schuft! und ich habe es ja immer gewusst. Da könnten sie kotzen. Sie sehen in den Spuren einen Menschen, der mit sich allein war, und das schon lange, bevor er seine Arbeit verlor.
Motiv? Keines außer den Kosten, die seine große Liebe verursachte, Caroline, eine alte Fuchsstute: Stallgebühr, Futter, Tierarzt.
Sie ermitteln noch das Datum, an dem ihm der Reitstall gekündigt hat – der Tag vor dem Feuergefecht. Dann nehmen sie alle Aussagen zu den Akten und asservieren die Spuren.
Der Waldläufer ist tot, die Ermittlung abgeschlossen.