Zwei gegen Pi

Die Zahl Pi ist die älteste Trophäe der Mathematik. Ein Team hat nun versucht, sie auf zehn Billionen Nachkommastellen genau zu berechnen. Eine Expedition ins Unbekannte, so spannend wie ein Flug mit der Enterprise

 

Sie rückten pünktlich in die Unendlichkeit aus, Sonntagvormittag um halb elf. Sie hatten die Maschine dafür gemeinsam geschaffen, Shigeru Kondo ihre Systeme, Alexander Yee den Code, der ihr befahl.
„Option?“, fragte die Maschine. Sie war startklar. Shigeru Kondo gab die Ziffer 0 ein, das Signal. Es war der 10. Oktober 2010, die Systemzeit zeigte 10:33:45 Uhr.
„Beginne Berechnung“, antwortete die Maschine. Sie war nackt, kein Gehäuse schirmte ihre Komponenten. Sie war von Ventilatoren umstellt, weil es sehr heiß werden würde, je weiter sie in die Unendlichkeit vordrang. Auf Kondos Bildschirm blinkte der Auftrag auf. „Konstante: Pi“, meldete die Maschine. „Fortschritt: 0 %“.
„Dann wurde es brutal“, sagt Alexander Yee über eine wankelmütige Internetverbindung, die seine Stimme stocken lässt. „Wir haben einen Haufen Gerät vernichtet.“

Yee, Student, 24 Jahre alt, foltert Maschinen. In der Welt der Zahlen ist er deswegen ein Star. Er lässt Computer rechnen, bis sie glühen. Er hält etliche Weltrekorde, sein Partner Kondo und er wagten sich in Weiten der Mathematik, die nie ein Mensch zuvor vermessen hatte. Am 10.10.10 brachen die beiden zu einer besonderen Zahl auf – Pi.

Wer den Umfang eines Kreises durch seinen Durchmesser teilt, erhält immer die gleiche Zahl, eine Konstante: π. Diese Kreiszahl Pi ist für alle Kreise gleich, egal ob sie klein wie eine Murmel sind oder groß wie der Mond. Jedes Schulkind lernt Pi kennen, meist auf zwei Kommastellen gerundet: 3,14.
In Wirklichkeit läuft Pi aber weiter, 3,1415926535897932384626433832795028841971693993751058 209749445923078164062862089986280348253421170679… Kommastelle auf Kommastelle, bis in die Unendlichkeit. „Pi ist einzigartig“, sagt Yee. „Keine Zahl ist so berühmt wie sie.“

Yee studiert Informatik an der Universität von Illinois, seine Studentenbude sieht aus wie der Kontrollstand eines Kraftwerks. Vier Bildschirme warten auf Befehle, dahinter stapeln sich seine Rechner, die er mit Kosenamen ruft, um sie in seinem Netzwerk schneller ausfindig zu machen. Zahlen sind sein Zuhause.
Als Schuljunge spazierte er durch alle Rechenaufgaben, schnell maß er sich in Mathe-Wettkämpfen. Sein Vater, ein aus China nach Amerika eingewanderter Ingenieur, stachelte den Wissensdrang des Sohnes mit Analysis und Algebra an. Zum Erstaunen der Eltern streuten Yees Zensuren jedoch abseits der statistisch erwartbaren Werte. Er schaffte es dennoch auf die Highschool. Dort sollte Yee in einem Informatikkurs ein simples Programm schreiben, das große Zahlen multiplizieren und dividieren konnte. Eine Fingerübung, die ihn noch nach der Abgabe fesselte.
Er verbiss sich in Potenzen und Wurzeln, befahl dem Programm, Gleichungssysteme zu berechnen, Hyperbeln, Logarithmen. Seine gesamte Schulzeit über schrieb er den Code fort. Als Student programmierte er sich bis in die Zahlenräume, die jenseits seines Verständnisses lagen. Die Formeln sagten ihm nichts mehr. Aber mit Code konnte er sie fassen. Auf diese Art gelangte er schließlich zu den Schönheiten der Mathematik – den Konstanten.

Konstanten sind Zahlen, die sich einer endgültigen Deutung entziehen. Manche Konstanten sind irrational. So nennen Mathematiker Zahlen, die sich nicht als Bruch von zwei ganzen Zahlen darstellen lassen – ihre Ziffern laufen nach dem Komma in Ewigkeit weiter, ohne sich periodisch zu wiederholen. Manche Konstanten sind transzendent. So heißen Zahlen, die sich nicht mit Algebra fangen lassen – es gibt keine Gleichung aus einer endlichen Anzahl von ganzen Zahlen, deren Ergebnis der Konstante auch nur nahe käme. Niemand kann diese Konstanten zu Ende rechnen. In der Welt der Zahlen, in der sonst so strenge Gesetze herrschen, sind Konstanten der Wilde Westen.

Yee preschte mit der Lust eines Entdeckers durch dieses Land. Er goss die Euler‘sche Zahl in Code. Den Goldenen Schnitt. Die Quadratwurzel aus 2. Die Catalan‘sche Konstante und die von Apéry. Er hatte Tausende Zeilen an Code. Nun wollte er wissen, wie gut er gearbeitet hatte. Er jagte sie erst auf ein einfaches Ziel – die Euler-Mascheroni-Konstante.
Was ist das?
„Hey, ich bin nur der Computer-Typ“, sagt Yee, sein Lachen klingt durch die Leitung. „Ich wollte nur sehen, wie schnell mein Code rechnen kann.“

Sein Code war höllisch schnell. Er stürmte die Euler- Mascheroni-Konstante entlang, in 96 Stunden schaffte er es, ihren Wert auf fast 15 Milliarden Stellen hinter dem Komma zu berechnen, Weltrekord. Der Computer, auf dem der Code lief, heizte die Schaltkreise seiner Hauptplatine unter dieser Volllast auf 95 Grad Celsius auf. Yee war elektrisiert. Er hatte die Maschine an das Ende ihrer Kräfte gepeitscht. Jetzt hetzte er seinen Code auf eine Konstante nach der anderen.

Catalan‘sche Konstante, 15,5 Milliarden Stellen, Weltrekord.
Apérys Konstante, 31 Milliarden Stellen, Weltrekord.
Euler‘sche Zahl, 100 Milliarden Stellen, Weltrekord.

Yee war 21 Jahre alt, ein Frischling seiner Fakultät, aber sein Ruf reichte schon bis Japan. Dort pflegte in der Präfektur Nagano ein Systemingenieur namens Shigeru Kondo die Kunst des Wettrechnens von Konstanten. Kondo, Mitte 50, war ein Mann der Maschinen. Er baute Computer aus billigen Teilen vom Versandhandel und frisierte sie, bis sie zu extremen Leistungen fähig waren. Code interessierte ihn kaum. Kondo hielt die meisten der Weltrekorde, die Yees Code zermalmte. Er machte seinem Konkurrenten ein Angebot. Sie beide, gemeinsam, gegen Pi.

Pi ist die älteste Trophäe der Mathematik. Archimedes wollte sie berechnen, der legendäre Astronom Dschamschid al-Kashi aus Samarkand und auch Ludolph van Ceulen, der so stolz darauf war, Pi auf 35 Stellen bestimmt zu haben, dass er sie in seinen Grabstein schlagen ließ. Sie alle lernten Pi als mathematische Fata Morgana kennen: Je näher sie der Konstante zu kommen glaubten, desto weiter rückte Pi in die Ferne. Pi ist als Zahl sowohl irrational als auch transzendent – Pi endet nie.
So unermesslich weit reicht Pi in die Unendlichkeit, dass Mathematiker es für möglich halten, jede nur denkbare Nummer stecke irgendwo in Pi: jeder PIN-Code, jede Telefonnummer, der Geburtstag aller jemals geborener Menschen und sogar die Geburtstage jener, die bis ans Ende aller Tage auf die Welt kommen werden. Wer die Buchstaben des Alphabets als Ziffern von 0 bis 52 verschlüsselt und weit genug in Pi wandert, wird mit dieser Matrize nach endlosen Wüsten von Nonsens plötzlich auf die Bergpredigt stoßen. Oder einen Liedtext von Elvis. Oder das Grundgesetz. Pi macht Mathematiker zu Philosophen. Kondo und Yee waren sich einig: Das Teil war fällig.

Kondo zimmerte die Maschine zusammen, die Pi knacken sollte. Er wählte eine Z8PE-D12-Hauptplatine, zwei Xeon-X5680-Prozessoren mit mehrfädigen Kernen, zwölf gestaffelte Arbeitsspeicher zu acht Gigabyte und drei LSI MegaRaid Controller. Sonst nur Festplatten. Seiner Ehefrau verheimlichte Kondo die Kosten.
Yee schliff unterdessen seinen Code. Er schrieb dem Programm die schnellste Formel für Pi ein, die er finden konnte. Die letzten Genies, die an Pi gescheitert waren, hatten sie aufgestellt: die Gebrüder Chudnovsky – zwei russische Mathematiker, die Ende der Achtzigerjahre einen Supercomputer in ihrer Mietwohnung hochzüchteten, der sie eine Milliarde Stellen in Pi schoss. Es war ein Windhund von Formel, ebenso angriffslustig wie elegant. „Aber leider ist mein Verständnis von Mathe nicht so fortgeschritten“, sagt Yee. „Gern würde ich begreifen, wie genau die Formel funktioniert.“

Im Mai 2010 sandten Kondo und Yee den Code das erste Mal in Pi. Als er drei Monate später wieder auftauchte, hatte er fünf Billionen Dezimalstellen erblickt. Das war nicht übel. Der bisherige Rekordhalter, ein französischer Kryptologe, hatte nach 2,7 Billionen Stellen kapituliert. Ermutigt beschlossen Kondo und Yee, eine weitere Expedition in Pi zu wagen. Am 10.10.2010 gab Kondo der Maschine das Startsignal. Es war 10:33:45 Uhr.

Sekundenbruchteile später schossen sie am Feynman-Punkt vorbei, eine Folge von sechs Neunern, die an Dezimalstelle 762 beginnt, 999999 – die letzte Landmarke vor der Unendlichkeit, die Menschen noch mit eigener Kraft erreichen können. Ab da braucht es Maschinen. Pi soff dahinter sofort wieder in seinen Rhythmus willkürlich wirkender Ziffern ab. Es war vertrautes Terrain. Pi war hier vielfach vermessen worden.
An vorbestimmten Orten zeichneten sich, wie Wegweiser in der Wüste, jene Stellen ab, an denen Pi allen Forschungsreisenden vorgaukelt, einer geheimen Ordnung zu genügen: Auf Höhe der dreihundertmillionsten Stelle standen acht Achten, 88888888. Später folgte ein Massiv von zehn Sechsern, 6666666666. Weit hinter der Marke von 500 Milliarden Stellen begann Pi plötzlich zu zählen, 123456789, bevor es wieder in Ödnis verschwand. Alles lief reibungslos. Das war verdächtig.

Kondo und Yee hatten längst mit einer Havarie gerechnet. Maschine und Code stemmten bis zu 17 Milliarden Rechenoperationen in der Sekunde, und das seit Wochen, pausenlos. In diesen Dimensionen sind Schäden kein statistisches Risiko mehr, sondern nur noch eine Frage der Zeit. Am 9. Dezember 2010 war es so weit. Auf Kondos Bildschirm stauten sich blutrote Zeilen.

„Fehler Code: 2 – Unbekannter Fehler“
„Versuche Berechnung erneut“
„Fehler Code: 2 – Unbekannter Fehler“
„Versuche Berechnung erneut“

Sie hatten sich irgendwo in Pi festgefressen. Kondo und Yee fingen von vorn an. Jetzt stießen Mensch und Maschine an ihre Grenzen. Es war Winter in Japan, aber im Zimmer der Maschine herrschten 40 Grad Celsius. Sie schluckte so viel Strom, dass Kondos monatliche Kosten dafür auf 270 Euro emporschnellten. Wusch seine Frau Wäsche, hing sie die nassen Klamotten kurz in die Nähe des Biests, schon waren sie trocken. Engeren Kontakt unterband Kondo. Während der ersten Expedition in Pi hatte sich seine Tochter die Haare föhnen wollen, worauf die Hauptsicherung herausflog. Nur eine Notstrombatterie rettete Pi. Auch jetzt kam es zu Ausfallerscheinungen. Erst verweigerte ein Lesekopf den Dienst. Dann brannte am 11. Februar 2011 die erste Festplatte durch.

„War noch Garantie drauf“, sagt Yee, durch die Telefonleitung dringt das Geklapper fieberhaften Tippens. Was macht er da? Yee stoppt kurz. „Ich kann multitasken wie irre“, sagt er. Er hat sich angewöhnt, seine Codes auf Bildschirm Eins zu schreiben und zeitgleich auf der Zwei in Maschinensprache zu übersetzen, während er auf dem dritten Monitor sein Netzwerk auf Tempo trimmt. Auf den vierten schaltet er zur Entspannung Zeichentrickfilme. Seine schnellsten Rechner dürfen die Namen der Heldinnen seiner Lieblingsserie tragen.

Anfang März waren Kondo und Yee wieder auf Spur. Sie rangen ihrem System inzwischen von Hand Sicherheitskopien ab, alle ein, zwei Billionen Stellen, so stießen sie von Basislager zu Basislager ins Nichts vor. Die Angst vor Ausfällen blieb. Sie standen kurz davor, das bekannte Universum von Pi zu verlassen, dessen Grenzen sie selbst acht Monate zuvor vermessen hatten: fünf Billionen Stellen. Was mochte jenseits dieses Horizonts liegen?

Wie alle wurden Kondo und Yee von der Katastrophe überrascht. Am 11. März 2011 überrollte ein Tsunami die Ostküste Japans, zerstörte das Atomkraftwerk von Fukushima, löste eine Kernschmelze aus und unterbrach Teile des Stromnetzes. Bang wartete Yee in Amerika auf ein Zeichen.
„An diesem Punkt habe ich mich gefragt: Warum machen wir das eigentlich?“, sagt Yee.

Nach allem, was er wusste, lagen große Teile Japans in Trümmern. Die Küste musste verseucht sein. Niemand kannte die Zahl der Toten. Yee dachte an Pi: „Sollten wir nicht etwas Sinnvolleres machen?“
Kein Mensch braucht Milliarden Stellen von Pi, selbst ein Mathematiker nicht. Zehn Stellen nach dem Komma genügen, um über Pi den Umfang der Erde auf den Millimeter genau zu berechnen. Mit 47 Dezimalstellen lässt sich ein imaginärer Kreis um das bekannte Universum legen.

Endlich erhielt Yee eine E-Mail von Kondo. Er sei wohlauf. Und: Er habe noch Strom. Die Maschine speiste sich aus dem westlichen, nicht von Zerstörungen betroffenen Stromnetz Japans. Der Code war unversehrt auf dem Weg in die Unendlichkeit.
Kondo und Yee zweifelten nicht lang an ihrem Tun. Sie waren angetreten, gemeinsam, gegen Pi. Aufgeben war keine Option.

Viermal mussten sie umkehren, um vom Basislager auf fünf Billionen Stellen einen neuen Anlauf zu starten, dabei die von Pi zerschmetterten Festplatten im Dutzend austauschend. Sie marterten die Maschine. Sie hofften, zehn Billionen noch zu schaffen. Mehr Pi würde die Speicher der Maschine platzen lassen.

Am 16. Oktober 2011, nach zwölf Monaten, sechs Tagen, vier Stunden, vierzig Minuten und drei Sekunden, waren sie da. Auf Kondos Bildschirm glomm eine Zahl.
Was war die Antwort? Warum machten sie das? „Einfacher Grund“, sagt Yee. „Weil wir es konnten.“
Sie hatten Pi bis zur zehnbillionsten Stelle berechnet.
Es war eine 5.

 

Illustration: Kristian Hammerstad

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